Damals! In alten Sektionsleiter-Unterlagen von 1982/83 geblättert …

Wir schreiben das Jahr 1982. Damals, das waren alles ganz andere Zeiten. Kein Handy, kein E-Mail und kein Internet. Kein Wunder, dass für so einige Verrückte Tipp-Kick der Nabel der Welt darstellte. Man versuchte sich im Dauer-Tipp-Kick-Spielen und schraubte den Rekord hoch und höher. Man saß im Wohnzimmer an der Platte, feilte wie verrückt, bis die Püppchen in Serie trafen. Jeder hatte seinen eigenen „Harry Kane“, sorry, den gab es natürlich damals noch nicht. „Kevin Keegan“ hieß er damals. Und Beine müssen ein bisschen schlackern, nicht durch zwei oder mehr Kugellager eindimensional befestigt sein. Fragt mal den B.B. aus Hirschlanden, der sieht das ähnlich. Damals zählte man nicht die zweistelligen Siege, man zählte die Spiele, in denen man nicht zweistellig traf. So oder so ähnlich ging es im alten, beschaulichen Schleswig-Holstein zu. H.L. aus H. war so ein Verrückter. Er wohnte bei seiner Mutter, die ihm das Essen bei den Weltrekordversuchen in den Mund schob, während er spielte. Und als ihn später seine Frau vor die Wahl stellte, Tipp-Kick oder sie, wählte er, genau und das ist wirklich wahr: Tipp-Kick. Die Frau ließ sich scheiden und wurde nie wieder gesehen. Zu mindestens nicht in der Nähe einer Tipp-Kick-Platte.

Abb. 1: Herbert Lorenzen (links) bei einem Weltrekordversuch im Dauer-Tipp-Kick-Spielen mit Bernd Davids (rechts)

Damals gab es alleine für die Regionen Hamburg und Schleswig-Holstein eine eigene Regionalliga. Und weil sich schon recht schnell 11 Vereine angemeldet hatten, zog eine zwölfte Mannschaft, der TKV Tornado Kiel, gleich mal sein Interesse für den Spielbetrieb zurück. Den jungen Mitspielern um Frank Thieme waren das einfach zu viele Termine. Alles kein Vergleich mit heute, wo sich nur zwei oder drei Vereine in den Regionalligen tummeln und mit Dreier-Mannschaften gegeneinander antreten. Tipp-Kick war damals das Leben.

Damals, da bekam man nicht die Spieltage wie ein Süppchen serviert und vorgekaut. Nein, da musste man den Telefonhörer in die Hand nehmen und miteinander reden. Termine abmachen. Der Sektionsleiter hatte zuvor einen Brief mit den Adressen und Telefonnummern der Vereine verschickt und gab den Takt vor: „Mit den Spielen kann sofort begonnen werden. Die Saison dauert bis Ende Mai.“ Und dann gab es noch eine Extra-Ansage: „Das Original-Spielprotokoll wird mir zugeschickt … und schreibt einen … Spielbericht auf einen Extrazettel.“ Heute undenkbar. Der Spielbericht wird abfotografiert und per Messenger verschickt. Da verlernt man doch das Schreiben! Später mehr dazu und zu dem Verlernen.

Und dann schrieb man einen netten Brief an den Sektionsleiter. Mit den Terminen, den Beschreibungen zum Spielort („Erst einmal zum Bahnhof. Und dann die Bahnhofstraße runterfahren. Und dann rechts abbiegen. Gleich hinter der Eisenbahnbrücke links abbiegen und dann seid ihr gleich am Pfarrgemeindezentrum. Es hat einen Parkplatz.“). Wohl dem, der einen Stadtplan besaß und Karten lesen konnte. Und im Brief lag dann auch gleich die Anmeldung zum Mannschaftsspielbetrieb, der den Kader enthielt. Und das klappte alles! Zu mindestens in dieser Saison 1982/83 im hohen Norden.

Und dann trudelten sie ein, die Spielprotokolle. Der Sektionsleiter legte seitenweise Tabellen an, um den Saisonbesten zu ermitteln, Computer gab es nicht, doch – oh Graus – da wurden Spieler en masse nachgemeldet und hochgezogen, zumindest in gefühlt mehr als 50 % aller Spiele. Da musste man als Sektionsleiter schon mächtig aufpassen, dass alle (N) gesetzt wurden. 10 Mannschaften bedingen 40 Tipp-Kicker. Eingesetzt wurden 72 Tipp-Kicker. Die Spielberichte auf den Rückseiten der Spielprotokolle waren mal kurz, mal länger: „… und dann die erste große Überraschung. Klecz konnte Runge knapp 1:0 schlagen.“ Was war da los? Ein unglaubliches 1:0, kein zweistelliges Ergebnis? War die Torarmut ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung Tipp-Kick-Zukunft?

Okay, dann muss mal die Aufklärung her: In der Bundesliga-Saison 2024 gab es 2 (in Worten: zwei) einzelne Resultate, bei denen einer der beiden Spieler mehr als 10 Tore schoss. Na gut, die Bundesliga ist nicht die Regionalliga. Also, in der Regionalliga West fanden in der Saison 2024 genau 56 Punktspiele statt, was wegen der Dreier-Teams 504 einzelne Spiele nach sich zog. In 22 Spielen schoss einer der beiden beteiligten Spieler 10 oder mehr Tore. Das macht nach Adam Riese, kaufmännisch gerundet, 4,4 % aller Einzelspiele. Und in der Regionalliga Hamburg/Schleswig-Holstein in der Saison 1982/83?  Es gab 53 Punktspiele (2 Spiele wurden gewertet) mit insgesamt 848 einzelnen Spielen. Das sind deutlich mehr Spiele, aber es kommt auf das Verhältnis an. In sage und schreibe 160 Spielen schoss einer der beiden Spieler 10 und mehr Tore, in 5 Spielen sogar beide Kontrahenten. Das sind schlappe 18,9 %. Kevin Keegan und die Schlackerbeine lassen grüßen!

Nach dem Generationenvergleich zu den Themen Kommunikation, Karten lesen, Berichte schreiben abschließend das letzte Thema. Ja, die alten und die jungen Tipp-Kicker-Generationen einen zwei Themen: das Zwölfeckige muss ins Viereckige und gewonnen hat die Mannschaft nur, wenn das Spielprotokoll richtig zusammengerechnet wurde. Damit sind wir beim nächsten Thema: der Mathematik. Der heutige Tipp-Kicker muss die einfache Addition beherrschen, nämlich das Zusammenzählen der Zahlen 1 bis 9. Kein Quadrieren, kein Wurzelziehen, kein Differential, kein Integral. Der Tipp-Kicker der 80-er Jahre musste auch zusammenrechnen, allerdings die Zahlen von 1 bis 20. Das ist schon deutlich anspruchsvoller. Um zum Kern zu kommen: in einer der Regionalligen (über den Namen der Sektion hülle ich mal lieber das Mäntelchen des Schweigens) der letzten Saison waren über 10 % (in Worten: ZEHN) aller handgeschriebenen Spielprotokolle falsch zusammengerechnet. Und in der Regionalliga Hamburg/Schleswig-Holstein von 1982/83? Ein (in Zahlen: 1 wie eins) Protokoll von 53 Protokollen war nicht korrekt addiert. Ein läppisches Törchen fehlte einem Spieler, nicht im Gesamtresultat, aber in der Einzelwertung. Hat das überhaupt irgendeine Relevanz?  Ja, und jetzt folgt die steile These des Autors dieser Zeilen: die gesamten Pisa-Studien, die den Steuerzahler Millionen gekostet haben, kannste vergessen. Schickt mir die handgerechneten Spielprotokolle einer Region und ich sage euch nach ein paar Stunden, wo die regionalen Rechenprobleme am ausgeprägtesten sind. Nicht umsonst gab es das Bonus-Malus-System bei den Abiturnoten im Ländervergleich. Und jetzt kommt der Hammer. Der Tagespiegel (Berliner Tageszeitung) titelt am 11. Dezember 2024: „Pisa-Studie für Erwachsene. Ältere Jahrgänge sind besonders gut gebildet.“ Die Tipp-Kick-Szene geht also goldenen Zeiten entgegen, denn der Altersdurchschnitt nähert sich rapide der 50-Jahr-Grenze. Das macht Mut.

Und noch eine kleine Anmerkung: Wo stammt der einzige in Mathematik promovierte Tipp-Kicker der Gegenwart her? Richtig, aus Schleswig-Holstein, da wo die Sprotten ihr Unwesen treiben.  Tipp-Kick bildet. Erst die Teilnahme an einem Kieler Turnier und der Gewinn von Schokoladen-Sprotten beseitigten die Bildungslücke des Autors. Sprotten sind eine Heringsart und in Kiel eine Delikatesse. Und wie heißt der promovierte Tipp-Kicker? „Von Hering“, nomen est omen. Gruß an Robert!

Jetzt endlich zum Sportlichen: Es standen sich zwei Lager gegenüber: die arrivierten Herren aus der Großstadt Hamburg mit ihrer ganzen Routine und ihren langjährigen Traditionen sowie die Jungspunde aus der Provinz. Nein, sie waren nicht hochnäsig die Hamburger. Es waren teilweise Studenten mit riesigen, wuschigen Bärten. Wie es sich 1982/83 gehörte. Die Haufe-Brüder. Wer kannte sie nicht? Das beeindruckte. Da musste man schon „Resilienz“ (besonders kluges, lateinisches Wort für Ehrgeiz, jedenfalls im weitesten Sinne) entwickeln, wenn man gegen die Urgewalten gewinnen wollte. Und die Jungspunde aus der Provinz? Gierig, gallig, heißblütig und die Besten der Besten von Ihnen sollten später auch den einen oder anderen großen Titel holen: Jens Runge aus Leck (das ist da, wo sich die Hühner an der deutsch-dänischen Grenze auf Friesisch grüßen) und Jan Klecz von dem Schülerverein Quickborn. Einige Monate nach der Gründung zählten die Rot-Goldenen schon über 30 Mitglieder (fast ausschließlich Schüler). 1993 holten der Jens und der Jan gemeinsam die Deutsche Mannschaftsmeisterschaft, doch die Jahre davor mussten sie beide durch die Tipp-Kick-Hölle des Nordens gehen. Das stählte.

Damals wurde natürlich auch taktiert. Man ließ sich die Aufstellung sagen und verwendete einfach unterschiedliche Spielprotokolle. Mal spielte im ersten Durchgang die 1 gegen die 5 sowie die 2 gegen die 6. Das kennen wir. Ein anderer Vordruck startete mit der 1 gegen die 8 und die 2 gegen die 7. Dann gab es noch lokale Subvarianten.

Abb. 2: Spielprotokoll mit den Anfangspaarungen 1 gegen 8 sowie 2 gegen 7, hier das Spiel 1. FC TKI Itzehoe I gegen TFC Kickers Hamburg II

Die Saison 1982/83 entwickelte sich recht spannend. Es gab schnell einen Dreikampf zwischen den beiden Hamburger Vereinen Kickers Hamburg I, Union Hamburg II und dem Verein an der dänischen Grenze, Wiking Leck I. Man ballerte was das Zeug hielt und sammelte zweistellige Ergebnisse wie andere Briefmarken. Irgendwann kassierte Union Minuspunkte und verabschiedete sich aus dem Mehrkampf. Am 23. April 1983, kurz vor dem Saisonende kam der Showdown in Leck. Erster gegen Zweiter. Leck war verlustpunktfrei, die Kickers mussten gewinnen. Und die Lecker spielten ganz lecker, sorry, locker auf: man ging 6:2, 9:3, 13:3 in Führung. Der Drops war fast gelutscht, da setzte das große Denken ein. Sind wir Jungspunde wirklich so gut, dass wir gewinnen können? Und der Gegner hatte nichts mehr zu verlieren. Spielrunde um Spielrunde ging nun an die Hamburger. 13:7, 13:11, 15:13, dann der Schlusspfiff. 15:17. Okay, nun hatten beide Mannschaften 18:2 Punkte. Einen direkten Vergleich gab es nicht und so rechnete man flugs die Spielpunkte zusammen. Man konnte ja rechnen und nach schneller Rechnerei hatten beide Mannschaften 273:77 Spielpunkte. Wieder unentschieden. Also, jetzt das Torverhältnis. 1131:683 für die Kickers und 1109:693 für Leck. Über tausend Tore in einer Saison geschossen? Beide Mannschaften? Wow! Kickers Hamburg lag also mit einer 32 Tore besseren Tordifferenz vorne und stieg auf. Dazu Glückwünsche, wenn auch verspätet nach 42 Jahren!

Letzte Anmerkung: Ein Dankeschön dem damaligen Sektionsleiter Heiko Mausolf, der seine akkurat geführten Sektionsleiter-Unterlagen der Saison 1982/83 an das Archiv des DTKV abgab. Gerne dürfen andere ehemalige Sektionsleiter seinem Beispiel folgen. In der Anlage befinden sich weitere Scans seiner Unterlagen. Die Spielprotokolle wurden in das Ligenverwaltungsprogramm von Peter Deckert eingegeben. Der Ergebnisdienst auf dieser Homepage wird die Saison 1982/83 der Regionalliga Hamburg/Schleswig-Holstein natürlich in sein Archiv aufnehmen. Nämlich hier!

Allerletzte Anmerkung: Allen ein schönes Weihnachtsfest … (und bitte, bitte, verschenkt das Tipp-Kick-Standardwerk von C.G. Irod: „Ylipulli“, es ist eine wunderbare Lektüre). Der Affiliate-Link ist hier!

Abb. 3: Typische Kadermeldung der 80er-Jahre (hier: TKV Rot-Gold Quickborn ’82)

Abb. 4: Typischer Spielbericht auf der Rückseite eines Spielprotokolls

 

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